Beschluss vom 19. Dezember 2007
                              1 BvR 967/05  
                              Anforderungen für die Verurteilung
                                auf Abdruck einer Gegendarstellung bei mehrdeutigen   Äußerungen. 
                            Die Beschwerdeführerin veröffentlichte
                              im Jahr 2004 in ihrer Wochenzeitschrift einen Artikel über
                              eine zivilgerichtliche Verurteilung einer Privatperson
                              zur Rückzahlung von Entschädigungszahlungen
                              in Höhe von 35,7 Mio. ¤. Diese habe
                              nach Auffassung des Gerichts zu Unrecht Leistungen
                              für ein angeblich in den Wirren des Zweiten
                              Weltkriegs verloren gegangenes Aktienvermögen
                              erlangt. 
                            Die von dem Artikel Betroffene erwirkte vor den
                              Zivilgerichten den Abdruck einer Gegendarstellung.
                              Das Oberlandesgericht hat dies auf die Erwägung
                              gestützt, dass der Artikel zwar nicht zwingend
                              die Eindrücke erwecke, gegen die sich die
                              Betroffene mit ihrer Gegendarstellung wende. Derjenige,
                              der eine Äußerung aufstelle oder verbreite,
                              müsse sich aber dann, wenn diese in unterschiedlichem
                              Sinne aufgefasst werden könne, im Rahmen von
                              Gegendarstellungsansprüchen grundsätzlich
                              jede vertretbare, jedenfalls nicht fern liegende
                              Interpretationsmöglichkeit, also auch jeden
                              nicht fern liegenden Eindruck entgegenhalten lassen. 
                            Auf die Verfassungsbeschwerde der Verlegerin hin
                              hob die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts
                              die angegriffenen Entscheidungen auf, da sie die
                              Beschwerdeführerin in ihrer Pressefreiheit
                              verletzen. Die Sache wurde an das Landgericht zurückverwiesen. 
                            Der Entscheidung liegen im Wesentlichen
                                folgende Erwägungen zu Grunde:  
                            Die durch die Gegendarstellung beanstandeten Tatsachenbehauptungen
                              waren in der Erstmitteilung nicht offen ausgesprochen
                              worden, sondern waren nach Auffassung der Gerichte
                              in ihr verdeckt erfolgt. Zeigt sich, dass ein erheblicher
                              Teil eines unvoreingenommenen und verständigen
                              Publikums der Äußerung neben den offenen
                              auch verdeckte, zu den offenen Aussagen abweichende
                              Inhalte entnimmt, so ist bei der weiteren Prüfung
                              auch von diesen Inhalten auszugehen. Ist - wie
                              hier - nicht eindeutig, ob hinter der offenen Aussage
                              auch eine verdeckte steht, ist darüber zu
                              entscheiden, nach welchen Grundsätzen sich
                              die Behandlung solcher mehrdeutiger Äußerungen
                              im Hinblick auf Gegendarstellungsansprüche
                              richtet. 
                            Die rechtliche Behandlung mehrdeutiger Äußerungen
                              kann nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
                              je nach dem Typ des jeweils erhobenen Anspruchs
                              zu unterschiedlichen Maßstäben führen: 
                            Das Bundesverfassungsgericht geht bei der Überprüfung
                              eines Strafurteils oder von zivilrechtlichen Verurteilungen
                              zum Schadensersatz, zur Entschädigung oder
                              zur Berichtigung von dem Grundsatz aus, dass
                              die Meinungsfreiheit verletzt wird, wenn ein Gericht
                              bei mehrdeutigen Äußerungen die zu einer
                              Verurteilung führende Bedeutung zugrunde legt,
                              ohne vorher mit nachvollziehbaren Gründen
                              Deutungen ausgeschlossen zu haben, welche die Sanktion
                              nicht zu rechtfertigen vermögen. Müsste
                              der Äußernde befürchten, wegen
                              einer erfolgten Meinungsäußerung verurteilt
                              zu werden, obgleich Formulierung und Umstände
                              der   Äußerung auch eine nicht zur Verurteilung
                              führende Deutung zulassen, könnte dies
                              zur Unterdrückung einer zulässigen Äußerung
                              führen und es könnten Einschüchterungseffekte
                              eintreten, die dem Grundrecht der Kommunikationsfreiheit
                              zuwiderliefen. 
                            Im Hinblick auf Ansprüche auf Unterlassung zukünftiger   Äußerungen
                              geht das Bundesverfassungsgericht (vgl. BVerfGE
                              114, 339 <350 f.> - „Stolpe“) allerdings
                              davon aus, dass verfassungsrechtlich erhebliche
                              Einschüchterungseffekte für den sich Äußernden
                              durch Maßnahmen des Persönlichkeitsschutzes
                              nicht ausgelöst werden, soweit der Äußernde
                              die Möglichkeit hat, die Beeinträchtigung
                              des Persönlichkeitsrechts eines anderen ohne übermäßige
                              Belastungen für sich durch eigenes Tun abzuwehren.
                              Bei mehrdeutigen Äußerungen kann dies
                              durch Klarstellung ihres Inhalts geschehen. Soweit
                              eine nunmehr eindeutige Aussage keine Rechtsverletzung
                              bewirkt, entfällt ein Unterlassungsanspruch.
                              Die Gerichte sind in den angegriffenen Entscheidungen
                              davon ausgegangen, dass diese für Unterlassungsansprüche
                              geltenden Grundsätze auf das Recht der Gegendarstellung
                              anwendbar sind. Das aber hat die Kammer verneint. 
                            Auch bei der Klärung, ob wegen einer mehrdeutigen
                              Aussage ein Anspruch auf Gegendarstellung besteht,
                              ist das Ziel maßgebend, Einschüchterungseffekte
                              für den Äußernden nach Möglichkeit
                              zu vermeiden. Die Erreichung dieses Ziels lässt
                              sich nicht hinreichend sichern, wenn die für
                              Unterlassungsansprüche geltenden Grundsätze
                              für den Umgang mit mehrdeutigen   Äußerungen
                              auf Erstmitteilungen angewandt werden, gegen die
                              sich Gegendarstellungen richten. Dabei ist zu berücksichtigen,
                              dass die Presse nur in seltenen Ausnahmefällen
                              eine Möglichkeit hat, die Veröffentlichung
                              einer Entgegnung des Betroffenen durch Angabe einer
                              Klarstellung oder Berichtigung der   Äußerung
                              abzuwehren. Ebenso ist zu berücksichtigen,
                              dass der Abdruck einer Gegendarstellung einen nur
                              schwer ausgleichbaren Imageschaden für das
                              zum Abdruck verpflichtete Presseunternehmen bewirken
                              kann. Die bei einer Verurteilung zum Abdruck der
                              Gegendarstellung offen bleibenden Fragen der Wahrheit
                              und Rechtmäßigkeit einer Berichterstattung
                              vermag die Leserschaft regelmäßig nicht
                              selbst zu klären. Der Abdruck einer Gegendarstellung
                              kann bei den Lesern deshalb Zweifel und Misstrauen
                              auch gegenüber einer wahrheitsgemäßen
                              und rechtlich nicht zu beanstandenden Berichterstattung
                              wecken, die sich nachträglich kaum mehr beseitigen
                              lassen. Solche Nachteile müssen zwar in beschränktem
                              Umfang um des Schutzes des von einer Berichterstattung
                              nachteilig Betroffenen Willen hingenommen werden,
                              der einer Presseäußerung regelmäßig
                              nicht mit Aussicht auf gleiche publizistische Wirkung
                              entgegentreten kann. Die Hinnahme solcher Nachteile
                              stößt aber auf verfassungsrechtliche
                              Bedenken, wenn dem gewichtige gegenläufige
                              Belange des Schutzes der Pressefreiheit entgegenstehen. 
                            Viele Sachverhalte lassen
                                sich auf dem beschränkten Raum, der für
                                einen Pressebericht meist nur zur Verfügung
                                stehe, nicht derart vollständig darstellen,
                                dass unterschiedliche Eindrücke der Leserschaft
                                ausgeschlossen werden. Auch können die veröffentlichten
                                Rechercheergebnisse noch nicht vollständig
                                sein, dürfen aber dennoch schon der   Öffentlichkeit
                                mitgeteilt werden, so dass Raum für Mutmaßungen
                                bleibt, welche weiteren Details mit dem Berichteten
                                zusammen hängen. Werden solche Rahmenbedingungen
                                pressemäßiger Arbeit bei der Ausgestaltung
                                des Rechts der Gegendarstellung nicht hinreichend
                                berücksichtigt, könnte die Presse mit
                                Gegendarstellungsansprüchen überhäuft
                                und in der Folge zu einer starken Zurückhaltung
                                in ihrer Berichterstattung veranlasst sein. Diese
                                würde dem Ziel widersprechen, auf ein hohes
                                Maß an Informiertheit der Öffentlichkeit
                                durch die Presse hinzuwirken. 
                            Eine Verurteilung zur Gegendarstellung darf daher
                              nicht schon dann ermöglicht werden, wenn eine „nicht
                              fern liegende Deutung“ bei der Ermittlung
                              einer verdeckten Aussage einen gegendarstellungsfähigen
                              Inhalt ergibt, wie die Fachgerichte vorliegend
                              aber angenommen haben. Verfassungsrechtlich unbedenklich
                              wäre es demgegenüber, würden die
                              Gerichte den auch sonst bei verdeckten Äußerungen
                              angewandten Maßstab zugrunde legen, ob
                              sich eine im Zusammenspiel der offenen Aussagen
                              enthaltene zusätzliche eigene Aussage dem
                              Leser als unabweisbare Schlussfolgerung
                              aufdrängen muss. 
                            Unter Anwendung dieser Grundsätze entspricht
                              das Vorgehen der Fachgerichte vorliegend nicht
                              den verfassungsrechtlichen Vorgaben, wenn sie die Äußerungen
                              mit solchen Inhalten als gegendarstellungsfähig
                              ansehen, die sie als „nicht fern liegende
                              Deutung“   oder gar als „nicht fern
                              liegenden Eindruck“   verstehen. 
                               
                              BUNDESVERFASSUNGSGERICHT 
                              - Pressestelle - 
                              Schloßbezirk 3 
                              76131 Karlsruhe 
                            Telefon 0721 9101-389 
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